Was ich glaube
Wir sind in heutiger Zeit gewohnt, die Welt vor allem naturwissenschaftlich zu betrachten, ihre Gesetzmäßigkeiten und vielerlei Interdependenzen wahrzunehmen und zu verstehen. Daneben gibt es aber auch eine andere Betrachtungsweise. Sie war früher einmal vorherrschend gewesen und geht uns heute immer mehr verloren: Ergriffen zu sein von der Schönheit der Welt, zu staunen über ihre vielen großen und kleinen Wunder - und über das größte aller Wunder: Dass es sie überhaupt gibt. Die biblischen Schöpfungserzählungen sind keine Weltentstehungstheorien, in ihnen kommt genau dieses Sich-Wundern und Staunen zum Ausdruck, die Gefühle von Dankbarkeit und Ehrfurcht sowie die Empfindung, dass der Welt eine tiefere Bedeutung innewohnt. Diese Sichtweise ergänzt die wissenschaftlichen Perspektive und vermittelt Sinn und Erfüllung - auch mir.
Aber: Es gibt nicht nur das Schöne in der Welt, sondern auch das Zerstörerische und Absurde. Darunter leiden Menschen - auch ich. Vor 2000 Jahren ist Jesus in die Öffentlichkeit gegangen: der Sohn eines einfachen Zimmermanns. Später hat man aus ihm eine mythische Himmelsfigur gemacht - und zugleich immer mehr vergessen, was ihn auszeichnete: Seine faszinierende Weltsicht. Es ging ihm nicht um eine distanzierte, objektive Beschreibung der Realität. Er leitete dazu an, die Welt neu wahrzunehmen und ungeahnte Möglichkeiten in ihr zu entdecken, zum Beispiel:
- im Gewohnten das Wunderbare zu sehen (Die Schönheit der "Lilien auf dem Feld")
- in einer lebensbedrohenden Situation unverhofft Hilfe zu bekommen ("Der barmherzige Samariter")
- bei einem zwielichtigen Menschen die Sehnsucht nach Veränderung zu erkennen ("Der Zöllner Zachäus")
- einen falsch eingeschlagenen Weg nicht als endgültig zu betrachten ("Der verlorene Sohn")
In den Gleichnissen Jesu leuchtet inmitten von Leid und Zerstörung eine Welt universellen Friedens auf, in dem die Menschen mit sich und ihrer Mitwelt im Einklang sind. Jesus war davon überzeugt, dass diese Welt keine Illusion ist, sondern dass sie mitten unter uns ist und weiter wächst. Man muss nur anders hinschauen. Und sie wirken lassen.
"Reich Gottes" hat Jesus diese Welt genannt. In dieser Bezeichnung klingt sein religiöser Hintergrund deutlich an. Jesus war gläubiger Jude und lebte in der Vorstellungswelt seiner jüdischen Tradition. Wenn ich den religiösen Hintergrund seiner Weltsicht für Menschen in der heutigen Zeit aufschließen soll, die nicht in dieser Vorstellungswelt leben, dann würde ich es so sagen: Jesu Weltsicht basiert auf einer religiösen Tiefenerfahrung: Dem Gefühl, in einem größeren Ganzen aufgehoben und geborgen zu sein. Dieses größere Ganze haben die Menschen schon vor dem Judentum "Gott" genannt. Im Laufe der Geschichte des Judentums wurde die Gottesvorstellung, die auch bei der schon erwähnten biblischen Rede von "Schöpfung" im Hintergrund steht, immer stärker personal ausgestaltet und funktionalisiert bis hin zu Aussagen, dass Gott Kriege befiehlt und die Völker im Umkreis Israels verflucht. Gleichzeitig ist immer mehr in den Hintergrund gerückt, dass die Gottesvorstellung ursprünglich einmal tastender Ausdruck war für das Gefühl eines letztlich unbeschreibbaren Horizontes, der die Alltagswelt unendlich übersteigt. Insofern Jesus seine Weltsicht auf diese religiöse Tiefenerfahrung gründet, beschreibt seine Sicht eine Welt des Einklangs in einem nochmals gesteigerten, unüberbietbaren Sinne: Sie ist für ihn durchpulst von einem größeren Ganzen. In ihm ist alles unendlich geborgen und aufgehoben.
Die Menschen waren fasziniert von Jesu Weltsicht und wollten diese nach seinem Tod weitertragen. So entstand die Kirche. Ihn, Jesus, fühlten sie in ihrer Mitte. "Heiliger Geist" hat die Kirche die inspirierende Kraft genannt, die von Jesus weiterhin ausging. Fatalerweise hat die Kirche in ihrer Geschichte Jesu Weltsicht allzu oft pervertiert und tut es auch heute immer wieder. Ich leide zudem an ihren steilen Dogmen, hinter denen die ursprüngliche Intention Jesu kaum mehr erkennbar ist, dem häufig anzutreffenden wörtlichen Missverständnis der biblischen Bildsprache und den veralteten, verkopften Ritualen. Dennoch glaube ich, dass die Kirche weiterhin gebraucht wird: Als Lebens- und Überzeugungsgemeinschaft von Menschen, die wie in der Anfangszeit der Kirche von der Weltsicht Jesu "beseelt" sind. Die Bedeutung von Kirche wird von Außenstehenden daran gemessen, wie sie diese Weltsicht auch wirklich ausstrahlt, und inwiefern sie angemessene Räume, Rituale und spirituelle Angebote bereitstellt, in denen man das Gespür für die religiöse Tiefendimension des Lebens entwickeln kann.
Ich trage auf meinem Weg durch das Leben Jesu Weltsicht in mir - und fühle mich verbunden mit vielen Menschen, die diese mit mir teilen. Vor dem Tod habe ich keine Angst, denn es begleitet mich das tiefe Gefühl eines größeren Ganzen - hoffentlich auch auf der Schwelle des Todes.