Thesen zu Religion im Allgemeinen und dem Christentum im Besonderen
Warum gibt es überhaupt Religion? Und warum tut sich das Christentum in der heutigen Zeit so schwer? Darum geht es in den folgenden 7 Thesen:
These 1
Menschliches Dasein ist gekennzeichnet durch das Streben nach Welterschließung und Selbstdeutung. Was ist der Mensch?, fragt der Philosoph Immanuel Kant. Was kann er wissen? Was soll er tun? Worauf darf er hoffen? Um die Welt zu erschließen und sich selbst zu deuten, hat der Mensch unterschiedliche Weltsichten entwickelt.
These 2
Religiöse Weltsicht hat einen spezifischen Charakter. Kennzeichnend für sie ist das Staunen: Dass es die Welt überhaupt gibt. Wie ungeheuer groß und vielfältig sie ist. Wie überwältigend schön sie in besonderen Momenten sein kann. Religiöse Weltsicht betrachtet die Wirklichkeit als ein im Letzten unergründliches Geheimnis. Sie ist in diesem Sinne Weltdeutung als "Sinn und Geschmack für das Unendliche" (Friedrich Schleiermacher). In besonderen, überwältigenden Erfahrungen können Menschen diese Unendlichkeitsdimension spüren und erleben.
These 3
Weil religiöse Weltsicht die Alltagswirklichkeit transzendiert, hat religiöse Sprache als Ausdrucksweise religiöser Erfahrungen einen eigenen Charakter: Sie ist metaphorisch-symbolisch. Man kann sie als "Mythopoesie" (Hartwig Thyen) bezeichnen.
These 4
Religionen sind im Unterschied zu “Religiosität”, die als allgemeinkulturelles Phänomen eine spezifische Weltsicht darstellt, komplexe Systeme, die sich im Laufe der Geschichte entwickelt haben. Das Christentum ist ein solches religiöses System.
These 5
Religiöse Systeme sind immer zeitbezogen und zeitbedingt. Sie verändern sich und entwickeln sich weiter, indem sie auf neue Herausforderungen reagieren. Tun sie das nicht, sterben sie im Laufe der Zeit.
These 6
Das Christentum in der Spätmoderne steht in der Gefahr zu erstarren. Es findet keine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Spätmoderne und ihren Weltdeutungen und -sichten (Naturwissenschaften, andere Religionen, Wertewandel) statt. Stattdessen betreibt das Christentum derzeit vor allem Traditionspflege und beharrt auf seinem traditionellen Absolutheitsanspruch. Das führt dazu, dass es sich von der spätmodernen pluralistischen Gesellschaft immer weiter abkoppelt.
These 7
Will das Christentum überleben, muss es sich umfassend reformieren, sowohl inhaltlich als auch formal.
Inhaltlich gilt es, die biblische Mythopoesie so für heutige Menschen aufzuschließen, dass sie als inspirierende Deutung für heutige Lebensfragen und -herausforderungen angesehen werden kann. Das gilt in besonderer Weise für
Gott, dem inhaltlichen Zentrum der Bibel
und für Jesus und seine Botschaft.
Im Bereich der Praxis braucht es im Christentum lebendige Gemeinschaften mit einem spezifischen Lebensmodell und einer zeitgemäßen Spiritualität.
Wo und wie ansetzen in der christlichen Theologie?
I) Probleme des Offenbarungsansatzes der traditionellen Theologie
Im Protestantismus genießt der offenbarungstheologische Ansatz große Zustimmung. Nach ihm hat Gott in der Bibel offenbart, wer er ist und worum es ihm geht. Von dieser Selbstoffenbarung Gottes gehen traditionelle Theologinnen und Theologen in ihrem Denkansatz aus. Allerdings stellt dieser offenbarungstheologische Ansatz vor große Probleme:
a) das religionsgeschichtliche Problem:
Die göttliche Offenbarung kommt nicht aus dem Nichts: Die biblische Gottesvorstellung fußt auf schon bestehenden Gottesvorstellungen der vorisraelitischen Zeit, wenngleich sie diese umgestaltet und umprägt. Früher hatte die alttestamentliche Exegese einseitig die Unterschiede zwischen der biblischen und der vor- bzw. außerbiblischen Gottesvorstellung betont. Diese Position lässt sich jedoch religionsgeschichtlich nicht mehr halten.
b) das religionsphilosophische Problem
Der offenbarungstheologische Ansatz behauptet die alleinige Offenbarung in einer einzigen religiösen Tradition. Karl Barth hat dieses Argument auf die Spitze getrieben, indem er die biblische Offenbarung allen anderen Religionen diametral entgegengesetzt hat. Die biblische Offenbarung, sagt er, ist gar keine Religion. Religion ist der menschliche Versuch, zu Gott zu kommen. Das kann jedoch nicht gelingen. Statt dessen kommt Gott zu den Menschen, und zwar in Jesus Christus. Das ist die allein gültige Offenbarung.
Diese Behauptung leuchtet heutigen Menschen in der Spätmoderne kaum mehr ein: Warum soll gerade das Christentum im alleinigen Besitz der Wahrheit sein? Hinzu kommt als Problem, dass sich zum Beispiel auch der Islam auf eine letztgültige Offenbarung bezieht. Eine übergeordnetes Argument, das die Wahrheit einer Offenbarung gegenüber einer anderen Offenbarung erweist, existiert nicht.
c) das philosophische Problem
Der offenbarungstheologische Ansatz denkt von einer imaginären Position Gottes her und tut dies auf sehr menschliche - wissenschaftlich gesagt: anthropomorphe - Weise: Gott redet, Gott will, Gott sagt usw... Gott erscheint wie eine übergroße, wenngleich perfekte Person. Das zeigt die grundsätzliche Problematik auf, eine außerhalb des Menschen liegende Position einnehmen zu wollen. Sie nährt den Verdacht, den in bekannter Weise der Philosoph Ludwig Feuerbach geäußert hat: Nicht Gott schuf den Menschen, sondern es verhält sich umgekehrt: Der Mensch schuf sich Gott.
d) das dogmatische Problem
Der offenbarungstheologische Ansatz weiß keine Antwort auf das Theodizeeproblem, also auf die Frage, wie Gott und das Böse bzw. das Leid zusammenzudenken sind. Einfach zu behaupten, auf diese Frage gebe es keine Antwort, befriedigt nicht. Wenn für dieses zentrale Problem der offenbarungstheologische Ansatz keine Antwort weiß, ist das eine fundamentale Infragestellung des Ganzen. Das Leiden ist, wie Georg Büchner einmal gesagt hat, der Fels des Atheismus.
e) das biblische Problem
Das Problem des anthropomorphen Redens von Gott stellt sich in verschärfter Weise, wenn in der Bibel Gott als Kriegsmann oder als blutrünstiger Moloch dargestellt wird. Hält man am Offenbarungsansatz fest, ist es schwer, mit solchen Aussagen umzugehen. Meist hilft man sich, indem man die biblischen Gottesvorstellungen an Kriterien wie "Liebe" oder "Frieden" misst. Hat man dann aber nicht schon Kriterien eingeführt, die der Offenbarung übergeordnet sind?
II) anthropologischer Ansatz der Liberalen Theologie
Liberale Theologie geht von einem anthropologischen Ansatz aus: Sie denkt vom Menschen her. Menschen machen Erfahrungen unterschiedlicher Art. Religion bezieht sich auf eine besondere, überwältigende Erfahrung: Die Erfahrung eines Ganzen oder Unbedingten. Schleiermacher formuliert: "Religion ist Sinn und Geschmack für das Unendliche". Diese Erfahrung des Unbedingten oder Unendlichen ist eine Deutung, denn Menschen können nur Endliches und Begrenztes wahrnehmen. Die Wirklichkeit über das Begrenzte und Endliche hinaus zu denken ist eine spezifisch menschliche Fähigkeit. "Religion ist die Deutung von Erfahrung im Horizont der Idee des Absoluten", formuliert der Theologe Ulrich Barth.
Von diesem Ansatz her ist die Gottesvorstellung eine Deutungsleistung des Menschen, die sich auf eine außerordentliche religiöse Erfahrung bezieht. "Gott ist das, was uns unbedingt angeht" (Paul Tillich). Geht man mit diesem Ansatz an das Thema "Gott" heran, kann man mit den oben geäußerten Problemen des Offenbarungsansatzes anders und - wie ich meine - deutlich besser umgehen:
Das religionsgeschichtliche Problem stellt sich nicht, weil liberale Theologie davon ausgeht, dass sich die biblische Gottesvorstellung langsam herausgebildet hat.
Auch das religionsphilosophische Problem löst sich auf, weil liberale Theologie keine exklusive Wahrheit behauptet. Sie geht vielmehr davon aus, dass andere Religionen andere Deutungen der gleichen religiösen Unbedingtheitserfahrung darstellen. Das bedeutet übrigens nicht, dass alles gleich wahr ist. Es braucht den Wahrheitsdiskurs mehr denn je.
Das dogmatische Problem, wie Gott und das Leid zusammengedacht werden können, löst sich zwar nicht auf, allerdings kann ein anthropologischer Ansatz es insofern entschärfen, als er das Theodizee-Problem als ein Grundsatzproblem der menschlichen Bildung einer Welttotalerklärung darstellt, dem man nicht entkommt. Das Problem verlagert sich von der Frage "Wie kann Gott das Leid bzw. das Böse zulassen" hin zum Problem, dass die Idee des Absoluten umgehen muss mit der Faktizität einer unvollkommenen Welt. Die Prozesstheologie löst das Problem für sich so, dass das Vollkommene etwas ist, das noch aussteht.
Der Anthropomorphismus ist für liberale Theologie insofern kein Problem, als religiöse Deutungsleistung notwendigerweise eine menschliche Angelegenheit ist und als solche nur begrenzten Wahrheitswert beanspruchen kann.
Problematische biblische Aussagen, die von Gott als einem Kriegsmann oder einem blutrünstigen Moloch sprechen, können deshalb auch entsprechend kritisiert werden.
III) Probleme des anthropologischen Ansatzes liberaler Theologie?
a) Relativierung biblischer Offenbarung?
Häufig wird einem anthropologischen Ansatz vorgehalten, er stelle eine Relativierung des biblischen Absolutheitsanspruches dar. Dieser Vorhalt ist insofern nicht korrekt, als es dem Christentum auch nach liberaltheologischer Ansicht durchaus um Absolutheit geht, allerdings im Sinne eines Hinweises auf Absolutheit, nicht als Besitz: "Wir haben diesen Schatz", schreibt der Apostel Paulus, "in irdenen Gefäßen".
b) Gefahr der Funktionalisierung biblischer Offenbarung?
Die "Theologie des Wortes Gottes" von Karl Barth ist in einer Zeit entstanden, in der liberale Theologie sich ideologisch vor den Karren einer menschheitsverachtenden Ideologie hat spannen lassen. Der Einspruch Barths gegenüber dieser Tendenz war notwendig. Um der Gefahr einer Funktionalisierung biblischer Tradition zu begegnen, ist theologische Wachsamkeit notwendig sowie das immerwährende Ringen um theologische Grundpositionen, die sich an den zentralen Maximen der Reich-Gottes-Botschaft Jesu orientieren. Hätte man dies im Dritten Reich getan, wäre es nicht zu den bekannt schlimmen theologischen Verirrungen liberaler Theologie gekommen.